28.10.2020Wissenschaft

Wie entstehen lokale Identitäten?

Was macht einen Ort einzigartig – und warum ist diese Eigenschaft wichtig? Wie kann man Dörfer und Städte sinnvoll weiterentwickeln, ohne dass man schon bestehende Entwicklungskonzepte pauschal übernimmt? Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, haben wir mit Prof. Dr. Marc Redepenning gesprochen. Er ist Professor für Kulturgeographie an der Uni Bamberg und forscht dort unter anderem an der Bedeutung lokaler Identitäten und lokalem Wissen. Er geht dabei auch der Frage nach, wie sich diese zwei Komponenten auf ländliche Entwicklungsprozesse und Stadt-Land-Beziehungen auswirken.

start.land.flow:Sie forschen zu der Relevanz lokaler Identitäten, wie sehen diese überhaupt aus?

Prof. Dr. Marc Redepenning: Lokale Identität ist in einer ersten Bedeutung eine nüchterne Beschreibung dessen, was einen Ort, ein Dorf, eine Stadt oder auch eine Region und Landschaft besonders und unverwechselbar macht. Was zeichnet also einen Ort aus und unterscheidet diesen von anderen Orten, etwa Nachbarorten? Lokale Identität entsteht immer im Auge eines Beobachters. Die Menschen, die in den Orten leben und dort Besonderheiten feststellen und dann im Lauf der Zeit pflegen und entwickeln. Lokale Identität ist also nichts Vorgegebenes, sondern ein Resultat der Schaffenskraft voFoto: Marc RedepenningFoto: Marc Redepenningn Menschen.

Oftmals entwickelt sich dann im Laufe der Zeit eine zweite Bedeutung von lokaler Identität, dass sich nämlich nach und nach Menschen mit diesen Besonderheiten identifizieren, sie in ihr Selbstbild einbinden. Man beschreibt sich als Bamberger und zeigt sich stolz auf die erwähnten Besonderheiten. Oft ist damit auch mehr lokales Engagement verbunden, weil man sich aufgrund der emotionalen Zugehörigkeit für den Ort und seine Entwicklung, seine Zukunft aktiv einsetzt; also mitgestalten will.

Hier nähert sich lokale Identität dem schwierigen Begriff von Heimat an. Eine dritte Bedeutung von lokaler Identität zeigt sich, wenn auch Menschen von Außerhalb die lokalen Besonderheiten kennen und sie, etwa als touristisch aktive Menschen nutzen. Dann wird lokale Identität zur Marke, die beworben werden kann und deren „Genuss“ von außen in oft wachsendem Maße nachgefragt wird – oft mit allen zum Beispiel in Bamberg erkennbaren Herausforderungen und Problemen im Verhältnis von Touristen und Einheimischen.

start.land.flow:Ganz konkret – wie sehen lokalen Identitäten zum Beispiel in Bamberg, Wunsiedel oder anderen oberfränkischen Orten aus?

Redepenning: Bricht man das nun konkret auf Orte herunter, dann ist sicherlich die Bierkultur prägend für die Identität Bambergs, auch die weitgehend ja barocke Bausubstanz der Stadt und ganz bestimmt auch die Gärtnerstadt, während für Wunsiedel sicher der Schriftsteller Jean Paul oder die Anlage und Festivität der Luisenburg identitätsprägend sind. Man merkt aber schon an diesen einfachen Beispielen, dass so etwas keine allgemeine Gültigkeit haben kann, weil unterschiedliche soziale Gruppen natürlich ganz andere Elemente als identitätsstiftend ansehen; und viele Bamberger würden meiner Aufzählung wohl auch nicht zustimmen und ganz andere Dinge als identitätsprägend nennen: etwa die Kirchen. Eine einheitliche lokale Identität wird sich in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft nicht realisierbar sein – und sie wird natürlich schwieriger, je größer der Ort ist.

start.land.flow:Gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Färbung von lokalen Identitäten?

Redepenning: Ja, schon. Man wird zu ihrer Bestimmung, also das was Identitäten in Stadt und Land dann doch unterscheidet, etwas abstrakter schauen müssen: Wichtig ist ja zunächst einmal, sich zu verdeutlichen, dass Stadt und Land zwei Kategorien sind, die uns helfen, unsere räumliche Umwelt zu ordnen; man weiß ja schon grob, was einen in der Stadt und dann auf dem Land erwartet. Ferner ist das „Ausgangsmaterial“, wie ich es mal nennen möchten, also die konkreten Besonderheiten, aus denen dann lokale Identität gebaut und erzeugt werden kann, in Stadt einerseits und auf dem Land andererseits doch recht unterschiedlich. Städte sind dichter bebaut, haben mehr und buntere ökonomische, ethnische, soziale und kulturelle Facetten; ein einfacher Effekt der Größe.

Auf der anderen Seite sind ländliche Räume grundsätzlich weniger dicht bebaut und besiedelt, die Natur bzw. Landwirtschaft dominiert im Landschaftsbild; sie sind eben „dünner“ ausgestattet. Insofern ist die Menge, aber auch die Art des Ausgangsmaterials für lokale Identität in Stadt und Land immer unterschiedlich.

Das ist der Punkt, an dem sich die „dünnere“ Ausstattung ländlicher Räume, das oft ja doch anzutreffende „Weniger“ als ein Vorteil zum Aufbau lokaler Identität erweisen kann, weil sich einfacher Identität herstellen lässt.

Prof. Dr. Marc Redepenning

Einen Beleg dafür kann man nun wieder und interessanterweise am Beispiel der Stadt und ihren inneren Gliederungen sehen. Dort sind kleinteilige Identitäten auf Quartiersebene oft robuster als auf gesamtstädtischer Ebene. Man spricht ja nicht umsonst von solchen Quartieren auch als Dorf in der Stadt. In Bamberg ist zum Beispiel die Wunderburg zu nennen.

start.land.flow:Weshalb sollte man lokales Wissen intensiver nutzen?

Redepenning: Für mich ist lokales Wissen eine besondere Form von Expertenwissen, wobei ich den Begriff Experte weit ausdeute. Menschen, die lokales Wissen haben, also ein Wissen über das Funktionieren von Orten und Nachbarschaften, die die Befindlichkeiten vor Ort kennen, aber auch die Geschichte, die Kultur und Traditionen an Orten, sind Experten eines ganz spezifischen, sich ja auch räumlich zeigenden Alltags. Es sind „Expertinnen und Experten des eigenen Lebens in einem Raum“, die wissen, wie etwa die Wunderburg, die Gaustadt, die Gärtnerstädte funktionieren und, salopp ausgedrückt, „ticken“: Wer kann mit wem? Wer sind wichtige Schlüsselpersonen, die mir helfen können? Welche Geschichten gibt es? Was sind die „Originale“ des Ortes? Dieses Wissen haben wissenschaftliche und Verwaltungsexperten meist nicht oder sie müssen es sich langwierig aneignen. Was liegt also näher, etwa in Planungsprozessen, genau dieses lokale Wissen frühzeitig einzubinden und zu integrieren?

start.land.flow:Welche positiven Effekte kann das Einbinden von lokalem Wissen mit sich bringen?

Kurz: lokales Wissen ist nicht nur kulturell oder geschichtlich wichtiges Wissen zur „Vielfaltsicherung“ (das ist es auch!), es ist vor allem Wissen zur Verbesserung von Prozessen und Entwicklungen, die wir heute starten, um unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten. Es muss Ziel jedes Ortes sein, dieses sog. „endogene“ und lokale Wissen möglichst gut mit dem Wissen und den Handlungen von Experten aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung (die gar nicht immer selbst aus dem Ort stammen müssen) zu verbinden. Ohne möglichst breite Einbindung der Menschen vor Ort bringt jede noch so gut gemeinte Planung nichts.

start.land.flow: Neben dem Einbinden von lokalem Wissen in Entwicklungsprozesse fordern Sie auch in einem Gastbeitrag bei Focus Online, „Austausch- und Lernnetzwerke zwischen Stadt und Land zu etablieren“.  Gibt es solche Netzwerke hier in Oberfranken?  Oder sollten solche Strukturen eher bayernweit-, bzw. deutschlandweit aufgebaut werden?

Redepenning: Man kann das nicht pauschal sagen, da Lernen ja am besten funktioniert, wenn beide Lernenden sich auf Augenhöhe begegnen. Und dann müssen wir fragen, ob Lernnetzwerke zwischen Stadt und Land in räumlicher Nachbarschaft auch wirklich auf Augenhöhe stattfinden können oder ob das nicht geht, weil das Gefälle zwischen Stadt und den ländlichen Gebieten zu groß ist – und dieses Gefälle läuft häufig von den ökonomisch und kulturell stärkeren Städten zu den ländlichen Räumen. Dann ist das Verhältnis zwischen beiden ungleich. In Oberfranken ist das für mich auch aufgrund der Kleinteiligkeit des Siedlungssystems (wir haben ja keine Stadt über 100.000 Einwohner und zugleich viele auch wirtschaftlich starke ländliche Gemeinden) ein geringeres Problem als in vielen anderen Regionen Deutschlands, in denen das Verhältnis von Stadt und Land etwa in ökonomischer Hinsicht sehr ungleich geordnet ist, so dass eine gemeinsame und  „gleichberechtigte“ Basis für das Lernen fehlt.

In solchen Fällen kann es eine Überlegung sein, Lernnetzwerke nicht über räumliche Nähe, also etwa Stadt mit ihrem ländlichen Umland, zu bilden, sondern sich mehr an gleichartigen Problemlagen und Herausforderungen zu orientieren, die bestimmte Städte und ländliche Regionen „teilen“. Für mich ist bei dieser Überlegung zentral, dass der sensible Prozess des Lernens nicht durch tradierte Ungleichgewichte zwischen benachbarten Orten blockiert wird, sondern eine Atmosphäre geschaffen wird, in der ein offenes und unbelastetes Lernen möglich ist. Wenn das aber gerade und insbesondere auch in räumlicher Nähe (z.B. Stadt und Landkreis Bamberg etwa in den Bereichen Tourismus und Bildung, zukünftig wohl auch im Bereich der Nachhaltigkeit) möglich ist und von allen Akteuren auch so gesehen wird: umso besser ist dann die Kooperation zwischen Städten und ländlichen Regionen in räumlicher Nachbarschaft!

start.land.flow:Warum scheitern schrumpfende ländliche Kommunen beim Versuch, dem Prozess durch Kopierenvon städtischen Strukturen entgegenzuwirken?

Redepenning: Weil man damit versucht, ganz salopp ausgedrückt, nicht nur Äpfel mit Birnen zu vergleichen, sondern die einen wie die anderen zu behandeln. Das ist als räumliche Entwicklungsstrategie, bei der es auf die Pflege und Entwicklung von lokalen Besonderheiten ankommt, wie ich es oben beschrieben habe, natürlich der falsche Ansatz. Die Idee zum Übertrag, zur Kopie städtischer Strukturen, ist zwar nachvollziehbar, weil oft gut dokumentierte Prozesse und Entwicklungen vorhanden sind, die sich leicht wiederholen lassen, leider nur in anderen räumlichen Kulissen.

Genau darin liegt das Problem: Jeder Ort, jede Kommune ist einzigartig, daher ist Kopieren eine denkbar schlechte Strategie, man muss behutsam und voll anpassen und verändern: Zudem fehlt oft in vielen kleinen Kommunen das Selbstbewusstsein neue Entwicklungen und Prozesse eigenständig anzuleiten.

Prof. Dr. Marc Redepenning

Und leider fehlt auch oft das Know-How zur Initiierung und Umsetzung. Gerade in vielen kleinen Gemeinden sind die Verwaltungen personell gar nicht in der Lage, kreative und experimentelle Prozesse anzustoßen und durchzuführen. In Städten sieht das überwiegend anders aus. Deswegen sind die Aktivierung und Wertschätzung des lokalen Wissens von Menschen vor Ort, insb. in ländlichen Regionen, so wichtig. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ermuntert und ermutigt werden, ihre kreativen Ideen einzubringen und dabei sicher gehen zu können, dass diese Ideen auch gehört und gemeinsam umgesetzt werden, wo es sinnvoll ist. Deswegen sind Netzwerke zwischen Stadt und Land wichtig, um sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen – auf Augenhöhe und mit dem Anspruch des gegenseitigen Lernens. Das muss das Ziel und der Inhalt von Stadt-Land-Partnerschaften sein.

 


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