22.09.2021Wissenschaft

Digitaler Stress Teil #1 - Schattenseite der digitalen Transformation

Foto: Elisa Ventur

Unsere Arbeitswelt wird immer digitaler, wodurch wir immer stärker vernetzt, besser informiert und produktiver werden. Mit intensiverer Nutzung digitaler Technologien fühlen sich die Menschen jedoch zunehmend neuen Belastungen ausgesetzt, was sich negativ auf unsere körperliche und geistige Gesundheit auswirkt – digitaler Stress entsteht. Dabei gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die zu digitalem Stress führen. Beispielsweise können die ständige Überflutung mit Informationen oder die Unzuverlässigkeit von IT-Anwendungen zu Frustration führen und unsere Leistungsfähigkeit einschränken.

Logo: PräDiTecDas Projekt PräDiTec, kurz für „Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien“, widmete sich genau diesem Thema. Es wurde über eine Laufzeit von 42 Monaten mit mehr als 2 Mio. Euro im Rahmen der Förderinitiative „Gesund – ein Leben lang“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstützt. Ziel war es, das veränderte Beanspruchungsprofil von Arbeitnehmer*innen durch das Voranschreiten der Digitalisierung zu analysieren sowie darauf aufbauend spezifische Präventionsmaßnahmen und Richtlinien zu erarbeiten, zu erproben und weiterzuentwickeln.

Um mehr über digitalen Stress herauszufinden, haben wir mit Dr. Nicholas Derra aus Bayreuth gesprochen, der als Projektmanager beim Betriebswirtschaftlichen Forschungszentrum für Fragen der mittelständischen Wirtschaft e.V. (BF/M) am Projekt mitbeteiligt war.  

 

start.land.flow: Lieber Herr Derra, das Projekt PräDiTec ist seit März dieses Jahres abgeschlossen und befasste sich u.a. mit dem Ziel, geeignete Lösungswege zu erarbeiten, wie Unternehmen den Spagat zwischen Digitalisierung sowie Gesundheit und Produktivität der Beschäftigten schaffen können. Hat sich die Wahrnehmung von digitalem Stress seit Beginn der Corona-Pandemie gewandelt und wenn ja, wie?

Dr. Nicholas Derra: Man hat mit Sicherheit eine erhöhte Aufmerksamkeit, als das vorher der Fall gewesen ist. Was bei uns im Rahmen des Projektes durchaus ein Thema gewesen ist: Dass digitaler Stress kein reines Homeoffice-Thema ist, ganz und gar nicht. Und dass er häufig mit anderen Facetten im Homeoffice auftritt.

Letztendlich ist der Level aber nicht sprunghaft gestiegen oder gesunken. Es ist generell ein großes Thema, dass digitaler Stress oder Homeoffice-Stress sehr komplexe Konstrukte sind, die wir nicht einfach auf den einen Faktor runterbrechen können. Wir sind mit fünf, maximal sechs in der Wissenschaft etablierten Stressoren ins Projekt PräDiTec gegangen, und mit 12 wieder herausgekommen. D.h. wir haben im deutschen Raum 12 Belastungsfaktoren bei digitaler Arbeit gefunden, was weit darüber hinausgeht, was bisher in der Forschung etabliert war. Da müssen wir wirklich sehr tief und vielschichtig ansetzen; pauschale Aussagen sind bei psychologischen Konstrukten sehr schwierig.

Ständige Verfügbarkeit und die Ablenkung durchs Smartphone. Foto: SigmundStändige Verfügbarkeit und Ablenkung durchs Smartphone. Foto: Sigmundstart.land.flow: Bedeutet für Sie ein Zuwachs an Bewusstsein für digitalen Stress gleichzeitig auch eine Reduktion von digitalem Stress?

Derra: Es existiert hier auf jeden Fall eine Verbindung. Wir befinden uns bei digitalem Stress in einem bei weitem noch nicht voll ausgeschöpften Forschungsfeld. „Technostress“ gibt es schon seit den 80ern als Schlagwort, aber dass die Forschung da wirklich vorne mit dabei ist, das ist erst seit rund 15 Jahren der Fall. Vor allem aber sind wir in der Unternehmenspraxis noch in den Kinderschuhen. Da ist die Forschung im Vergleich schon viel weiter.

Wissen und Bewusstsein spielt dabei eine ganz zentrale Rolle, um digitalem Stress entgegenzuwirken, aber auch, um ihm vorzubeugen. Durch die Handlungen, die sich aus gesteigertem Bewusstsein ergeben, wird digitaler Stress sinken. Aber es ist eher ein Enhancement (Anm. der Redaktion: Mittel zur Steigerung) für weitere Maßnahmen, als dass das reine Bewusstsein schon digitalen Stress senken würde.

start.land.flow: Sie haben aus dem Projekt PräDiTec als Fazit gezogen, dass ein einziger allgemeiner Workshop in einem Unternehmen vielleicht nicht ausreicht, um digitalen Stress dauerhaft zu reduzieren. Wie könnte denn ein dauerhaftes Engagement einer Organisation aussehen, die den digitalen Stress ihrer Mitarbeiter*innen reduzieren möchte?

Derra: Wissen und Bewusstsein sind ganz zentral. D.h., wenn ich bei meinen vorhandenen Arbeitnehmenden diese beiden Punkte wirklich vorantreibe, v.a. auch das Wissen über digitalen Stress, dann erreiche ich schon sehr viel. Das kann ich auch langfristig hinbekommen, besonders wenn ich neue Mitarbeitende sofort in diesem Zusammenhang schulen würde. Ich kann also auch mit Verhaltensprävention digitalen Stress langfristig senken – also beim Individuum angesetzt.

Was wirkungsvoller ist, gerade in der langen Frist und in der Wirkbreite, ist Verhältnisprävention. D.h. ich passe meine Organisationsstruktur ein Stück weit an das Thema an. Da sind wir sehr schnell bei unternehmens- oder organisationsinternen Anlaufstellen, sogenannten Multiplikator*innen, die kein Helpdesk für IT-Probleme sind, sondern Anlaufstellen für das Thema digitaler Stress. Diese Abgrenzung ist sehr wichtig. Sie dürfen nicht als IT-Abteilung 2.0 verstanden werden.

Die zweite Möglichkeit der Verhältnisprävention, was ich persönlich sehr empfehlen kann, ist die Erstellung eines Unternehmensleitbildes im Zusammenhang mit digitalem Stress. Eines, dass wirklich auf Unternehmensebene schwebt, was dann aber jedem, der neu ins Unternehmen kommt, zugänglich gemacht wird und klar ersichtlich ist. Dann kann man auf Basis klarer Unternehmensleitlinien auch auf Teamebene einen weiterführenden Knigge erarbeiten, wo man dann nochmal schaut: „Haben wir da spezifische Anforderungen an die Nutzung digitaler Technologien, v.a. an Kommunikationsregeln, an Erwartungen“. Denn verschiedene Medien haben verschiedene Reaktionszeiten und sind eigentlich für unterschiedlich Arten der Kommunikation gedacht. Sich das bewusst zu machen, niederzuschreiben und auch zu kontrollieren, ob sich daran gehalten wird, kann in der langen Frist schon sehr viel bringen.

Parallel dazu bin ich aber zu 100% bei Ihnen. Wissen und Bewusstsein sind die ersten und zunächst relevantesten Schritte. Allein damit wird’s immer noch herausfordernd, aber im Erfolgsfall gewinnbringend für alle Beteiligten – ohne ganz unmöglich. Daher bieten wir am BF/M-Bayreuth interessierten Unternehmen auch an, den Prozess auf dem Weg zu weniger digitalem Stress im Arbeitsalltag und damit höherer Arbeitsqualität und Produktivität zu begleiten.

start.land.flow: Wie unterscheiden sich die Multiplikator*innen dann letztendlich von einem Helpdesk? Was wären ihre Aufgaben in einem Unternehmen?

Derra: Dass sie Wissen und Bewusstsein über digitalen Stress schaffen. Dass sie das Thema ernst nehmen und auch zuhören, wenn man mit solchen Problemen zu ihnen kommt. D.h. da sind wir auch im Bereich von Sprechstunden. Es geht aber nicht um „mein Office funktioniert nicht“. Das ist für die IT-Abteilung. Aber: „Ich merke, dass ich meine Arbeitsaufgaben nicht mehr schaffe, weil ich mich einen Großteil meiner Arbeit mit der Lösung digitaler Probleme befasse“ oder „meine Technologien sind nicht verfügbar, das belastet mich und setzt mich gegenüber meinem Vorgesetzten unter Druck“. Da sprechen wir dann von digitalem Stress und da können Multiplikator*innen ansetzen. Theoretisch könnten sie im Rahmen von Monotasking-Übungen sogar die ein oder andere Verhaltensprävention durchführen, je nachdem wie umfangreich sie geschult worden sind.

start.land.flow: Ist da nicht ein gewisses Maß an Vertrauen notwendig, sich einer solchen Person mit den eigenen Problemen (in Bezug auf digitalen Stress) anzuvertrauen?

Derra: Das mit Sicherheit. Es gibt ja teilweise Betriebspsychologen, gerade in öffentlichen Organisationen, oder Anlaufstellen bei Betriebsräten etc. Das wäre folglich nicht die erste Position im Unternehmen, wo Vertrauen notwendig ist, aber Sie haben natürlich Recht, auch hier spielt die Kommunikationsfähigkeit und das Zwischenmenschliche eine große Rolle, weil wir über ein psychologisches Konstrukt sprechen.

Foto: Scott GrahamFoto: Scott Grahamstart.land.flow: Nochmal zurück zum Leitbild: Sollten sich darauf alle Mitglieder einer Organisation einigen? Wie könnte man so etwas etablieren?

Derra: Was man natürlich nicht vergessen darf ist, alle Hierarchiestufen mitzunehmen. Da kommen Sie nicht drum herum. Also bis zum Praktikanten, wenn er über einen längeren Zeitraum angestellt ist, sollte man in diesen Prozess der Leitbilderstellung miteinbinden. Parallel dazu ist es natürlich sinnlos, alle mit in Workshops reinzunehmen, weil der Prozess sonst nie fertig wird. Und zu viele Köche verderben den Brei, stimmt da schon auch.

Feedback und Konsolidierung muss über die ganze Belegschaft hinweg erfolgen. Zu tief möchte ich da aber jetzt nicht ins Detail gehen, weil das ja eine Dienstleistung ist, die wir anbieten, also die Begleitung einer Leitbilderstellung.

start.land.flow: Was ist Ihre größte Erkenntnis aus dem Projekt PräDiTec?

Derra: Es ist unvermeidlich geworden, sich mit dem Thema digitaler Stress zu befassen. In nahezu allen Berufen haben wir es in irgendeiner Form mit digitalen Technologien zu tun. Unsere Studie hat gezeigt, dass diejenigen, die zahlreiche Technologien nur selten nutzen, zwar am stärksten gestresst sind, aber dass der Stresslevel trotzdem über alle Nutzungsformen hinweg vorhanden ist. D.h. es gibt eine Belastung durch digitale Technologien und das Anforderungsprofil an Arbeitnehmende hat sich verändert. Und das ist ein Problem, das ganzheitlich in der Gesellschaft diskutiert werden muss.

Als kleinen Ausblick darf man auch nicht vergessen: Technostress und das Projekt PräDiTec orientieren sich ausschließlich am Beruf, d.h. am Arbeitsalltag. Die Belastung digitaler Technologien kann, je nach Nutzungsverhalten, aber auch im privaten Bereich eine große Rolle spielen. Es gibt zwar vereinzelte Studien, aber da ist die Forschung im Bereich der Arbeitswelt deutlich weiter. Und auch da sind wir bei weitem nicht am Ende der Fahnenstange. Das ist wirklich ein Thema, das unsere Gesellschaft als Ganzes beschäftigen muss, weil wir seit den 2000ern sehr rapide digitalisieren. Und dann müssen wir uns auch mit den psychologischen Folgen solcher Entwicklungen befassen.

 

Dies war der erste Teil unserer Reihe zu digitalem Stress. Im nächsten Artikel stellen wir euch das Nachfolgeprojekt von PräDiTec namens STRESS-LESS vor, welches darauf abzielt, innovative Lehrmethoden für die Verbesserung der digitalen, persönlichen und sozialen Kompetenzen von Mitarbeiter*innen kleiner und mittlerer Unternehmen anzubieten und deren Einführung zu unterstützen. Also stay tuned!

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