Blaulichtfilterbrillen als Heilversprechen für uns Smartphonejunkies
Endlich haben alle das offizielle Okay zum Brille tragen. Denn man benötigt als Legitimation dafür keine Sehschwäche und auch kein starkes Sonnenlicht mehr. Der Grund: Blaulichtfilterbrillen erobern den Markt – und die sozialen Medien.
Unter dem Hashtag #bluelightglasses sammeln sich auf Instagram zehntausende Brillenträger*innen. Die Brillen haben dabei in den meisten Fällen keine Sehstärke eingebaut. Sie dienen allein dem Zweck, das hochenergetische Blaulicht (HEV-Licht) zu filtern. Das sorgt nämlich dafür, dass das Schlafhormon Melatonin nicht in dem Umfang ausgeschüttet wird wie es ohne Blaulicht der Fall wäre. Durch das Tragen von Blaulichtbrillen ergeben sich damit zwei entscheidende Vorteile für die Nutzer*innen. Erstens: Weniger HEV-Licht, dadurch keine Störung des Hormonhaushalts, besserer Schlaf. Zweitens: die Brille als stilsichere Ergänzung des Outfits, ohne Sehschwäche oder Sonnenlicht als Anlass. Klar, dass ich das sofort selbst testen will, nachdem auch mein Instagram-Feed damit vollgespült wird.
Gesagt, getan!
Kein Selbstversuch ist einfacher, als den Versprechen der Blaulichtbrillen in Eigeninitiative auf die Spur zu gehen. Ein Sprung in den nächsten Drogeriemarkt und schon besitze ich eine schicke Brille für etwas mehr als 10 Euro – ohne Sehstärke, mit Blaulichtfilter. Das Versprechen auf der Verpackung: „filtert ca. 30-32% des blauen Lichts, sodass ein positiver Effekt für die Augen erzielt werden kann“. Mal sehen. Sich an die Brille zu gewöhnen fällt mir nicht schwer. Der leichte Gelbflimmer, der beim Tragen entsteht, fällt mir immer erst dann auf, wenn ich sie wieder abnehme und beim ersten Blick auf den Bildschirm einen kurzen Blaustich erlebe. Vergeht aber sofort wieder.
Nach einem Arbeitstag vor dem Bildschirm habe ich manchmal trockene und gereizte Augen, über meinen Kopf legt sich ein leichter Dizzy-Schleier. Das passiert oftmals gar nicht bewusst, sondern es legt sich einfach insgesamt ein benebeltes Gefühl über den Kopf. Aber liegt das nicht einfach an der Tatsache, dass man viele Stunden konzentriert arbeitet? Oder dass man viel Inhalt konsumiert (stundenlang auf Youtube, Reddit und Twitter abtauchen kann ja zumindest als Input in irgendeiner Form durchgehen)? Oder wirklich hauptsächlich am Blaulicht?
Das HEV-Licht ist vor allem dafür verantwortlich, dass man abends nicht gut einschlafen kann – trotz Müdigkeit. Wer gerade unmittelbar vor dem Schlafen noch Zeit vor HEV-Lichtquellen verbringt, riskiert eine um über 50 Prozent gesenkte Melatonin-Produktion und beeinflusst damit die Steuerung seines Tag-Nacht-Rhythmus. Die Einschlafphase dauert länger und die REM Schlafphase ist weniger intensiv. Diese Erkenntnisse beschreibt Matthew Walker in seinem Bestseller „Why We Sleep“. Die Folgen einer solchen Nacht sind auch am darauffolgenden Tag noch spürbar, erklärt Walker: Die Probanden fühlten sich schläfriger. Die Verringerung der Melatonin Ausschüttung war auch Tage nach einem Abend am Tablet noch nachzuweisen – fast wie bei einem „Digital Hangover“.
Die Brille allein löst auch nicht alle Probleme
Trotz meiner stilsicheren Blaulichtfilterbrille als vorbeugender Gegenmaßnahme zum Digital Hangover habe ich aber nicht das Gefühl, schneller und besser einschlafen zu können. Das könnte aber natürlich auch daran liegen, dass ich abgesehen vom Brillenkauf absolut nichts an meinem sonstigen Verhalten geändert habe und dementsprechend vom Bett aus noch auf Instagram und Co abhänge. Auch sonst spüre ich insgesamt kaum eine Veränderung, seitdem ich die Brille im Alltag trage. Ich fühle mich hier und da ein bisschen konzentrierter, schreibe das aber eher dem produktiven Stereotyp zu, den ich mit dem Brillenträgerstil verbinde.
Dass ich keinen nennenswerten Unterschied wahrnehme, kann auch darauf zurückzuführen sein, dass ich bereits seit Monaten alle meine technischen Geräte dauerhaft im Nachtsichtmodus benutze. Dabei wird das blaue Licht ebenfalls gefiltert. Der Mechanismus läuft letztendlich auf denselben Effekt hinaus, oder nicht? Und: Damit hätte ich mir dann die 12,99 Euro für die Brille auch sparen können. Hinzu kommt, dass das Problem von zu viel Input durch technische Geräte weder mit Nachtmodus noch durch die Brille angegangen wird. Da muss man auch Mal wieder den Hut vor der Marketing-Branche ziehen: Nenne das gesellschaftliche Problem beim Namen: zu viel Bildschirmgeglotze. Ignoriere die naheliegendste, simpelste Lösung: Bildschirmzeit reduzieren oder wenigstens Nachtmodus einschalten. Und erfinde wesentlich teurere, ursachenignorierende materielle Produkte: Blaulichtfilterbrillen.
Der Höhepunkt meines Selbstversuchs markierte auch gleichzeitig das Ende der Testphase: Ich ging zum Brillenfach, nahm sie gedankenverloren heraus und setzte mich wieder vor den Laptop. Stunden später warf ich beim Gang in die Küche einen Blick in den Spiegel und musste feststellen: Ich hatte tatsächlich die ganze Zeit eine Sonnenbrille auf. Und keinen Unterschied bemerkt. Und gut geschlafen habe ich im Anschluss an diesen Fauxpas auch noch. Seitdem liegt die Brille nur noch im Regal und dient mir nicht Mal mehr als Stilmittel zum Outfit.