Sportwagen ohne Bremse? – Leben und Arbeiten mit AD(H)S
Das Thema AD(H)S hat immer noch mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Doch die früher als „Zappelphilipp-Syndrom” bekannte Verhaltensstörung gewinnt immer mehr an Aufmerksamkeit und nicht zuletzt durch die sozialen Medien findet zunehmend eine Sensibilisierung statt.
Instagram-Accounts wie von @kirmesimkopf oder Schriftstellerin Charlotte Suhr (@chaarlottchen) klären unter #neurodiversität mit privaten Einblicken und aufwendig gestalteten Posts über AD(H)S und den Umgang damit auf. Sie leisten einen Beitrag dazu, dass die Sensibilisierung für die Verhaltensstörung auch in der Lebensrealität von nicht betroffenen Menschen und in der Berufswelt ankommt. Das ist deshalb besonders wichtig, da AD(H)S einen starken Einfluss auf die Arbeitsweise von Betroffenen hat.
Was genau ist eigentlich AD(H)S?
- AD(H)S ist eine Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung, die nach heutigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand auf eine Regulationsstörung im Frontalhirn zurückgeht. Die Reizweiterleitung im Gehirn wird durch Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin bewirkt, deren Ausschüttung und Aufnahme sich bei ADHS-Betroffenen nicht im Gleichgewicht befindet.
- Die Symptomatik ist bei jedem Betroffenen individuell ausgeprägt. Sie liegen im Wahrnehmungsbereich (z.B. Ablenkbarkeit), Sozialisationsbereich (z.B. Antriebslosigkeit) und dem motorischen Bereich (z.B. körperliche Unruhe). Je nach Ausprägung und der damit verbundenen Belastung kann dies ohne Behandlung zu Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen führen.
- Die Therapie ist meist multimodal ausgelegt und kann folgende Ansätze beinhalten: Situationsanalyse, Verhaltenstherapie, Medikamente, Coaching oder sozialtherapeutische Unterstützung.
- Quelle: adhs-deutschland.de
Mit dem richtigen Umgang bringt das Syndrom aber nicht nur belastende Auswirkungen mit sich, sondern auch viele positive Eigenschaften – die genutzt werden können. Diese Erfahrung hat auch Johannes gemacht, der für diesen Artikel anonym bleiben wird. Er bekam mit elf seine Diagnose, hatte schlechte Noten in der Schule und flog vom Internat. Heute arbeitet er in der Immobilienbranche und ist Gründer einer Marketing-Agentur. „Jemand hat mal gesagt: Wenn man ADHS hat, dann ist das, als hätte man einen Ferrari-Motor, aber keine Bremsen”, erzählt er. „Ich war der Klassenclown, habe wirklich alles vor mir hergeschoben, war unorganisiert, unordentlich, konnte mich nie konzentrieren, hatte Stimmungsschwankungen, Probleme mit der Impulskontrolle etc.”. Inzwischen hat er gelernt zu „bremsen” – zunächst durch Medikamente, dann vor allem durch Neurofeedback. „Ich mag mein ADHS heute und bin sehr dankbar dafür.” Er rät Berufstätigen mit AD(H)S sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Denn „konzentrieren ist wie Fahrrad fahren. Wenn man es einmal gelernt hat, ist es schwierig wieder zu verlernen.”
Was ist Neurofeedback?
- Neurofeedback ist eine weitere Möglichkeit AD(H)S zu therapieren.
- Betroffene sollen durch das Lösen von Aufgaben am Computer lernen, die Funktionen ihres Gehirnes aktiv zu beeinflussen. Über Messgeräte werden die spezifischen Hirnaktivitäten sichtbar gemacht.
- Das Neurofeedback ermöglicht direkt während des Lösens einer Aufgabe am Monitor die Rückmeldung der Hirnaktivitäten und kann so vor allem die Konzentrationsfähigkeit trainieren.
Durch die Auseinandersetzung mit „seinem” ADHS kann sich Johannes im Berufsalltag auf die positiven Seiten konzentrieren: „Ich habe mehr Energie als andere und mehr Motivation – man muss nur wissen, wohin und wie man diese Energie lenkt.” Inzwischen beeinflusst ADHS sein Leben „überwiegend positiv”, erzählt er. Betroffene müssen also nicht unter AD(H)S leiden, denn oftmals zeichnen sie sich, aufgrund der ständigen Aufnahme von Reizen, durch ein hohes Maß an Kreativität, Spontanität und auch Risikobereitschaft aus – alles Eigenschaften, die in einem erfolgreichen Unternehmen nicht fehlen dürfen. Trotzdem würde Johannes im beruflichen Kontext nicht einfach so davon erzählen, da es in vielen Kreisen immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet ist. Diese Stigmatisierung kann allerdings bei Betroffenen den Leidensdruck erhöhen und sich in Angst vor Jobverlust oder vor weniger Respekt gegenüber der erbrachten Arbeit ausdrücken. Aufklärung ist hier ein erster Schritt in die richtige Richtung, um zu zeigen, dass mentale Gesundheit und die Akzeptanz von Neurodiversität zu einem vielfältigen und progressiven Arbeitsmarkt dazugehören.
Was tun bei Verdacht auf AD(H)S oder bei einer Diagnose?
- Wenn du mehr Informationen über AD(H)S benötigst, findest du diese beispielsweise auf der Internetseite von adhs-deutschland.de.
- Dort gibt es auch eine Telefon-Seelsorge, falls du dich in einer Krisensituation befinden solltest.
- Solltest du einen Verdacht auf AD(H)S haben, solltest du nicht zögern, dir Hilfe zu suchen. Eine erste Anlaufstelle ist auch immer dein Hausarzt. Die Diagnostik selbst kann aber nur durch einen niedergelassenen klinischen Psychologen /Psychiater erfolgen.